Feministische Perspektiven in der Soziologie – Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen*

<strong>Mittagsvorlesung auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie</strong> in Frankfurt am Main 2010 In der Geschichte der Soziologie ist es immer noch geboten, nach dem besonderen Beitrag von Frauen zu dieser Disziplin zu fragen, auch 100 Jahre nach Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, zumal dann, wenn selbst in neuesten Veröffentlichungen anlässlich ihres Jubiläumskongresses die Geschichte der Soziologie wiederum als exklusiv männliche konstruiert wird. Dabei geht es mir nicht um

Mittagsvorlesung auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010: „Feministische Perspektiven in der Soziologie: Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen“, in: Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen der 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, hg. v. Hans-Georg Soeffner, Wiesbaden: Springer 2013 Bd. 2, 757-773. Überarbeitet in: „Für eine andere Gerechtigkeit…“, S. 249-276

In der Geschichte der Soziologie ist es immer noch geboten, nach dem besonderen Beitrag von Frauen zu dieser Disziplin zu fragen, auch 100 Jahre nach Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, zumal dann, wenn selbst in neuesten Veröffentlichungen anlässlich ihres Jubiläumskongresses die Geschichte der Soziologie wiederum als exklusiv männliche konstruiert wird. Dabei geht es mir nicht um die Rehabilitation einzelner Autorinnen oder um eine eigene, spezifisch weibliche Traditionsbildung, auch nicht nur um den Versuch, Lücken zu schließen im Sinne der Addition oder Ergänzung einer bisher einseitigen Kanonbildung. Vielmehr leitet mich die weit kühnere These, dass das Verschweigen bzw. die Ausblendung des Beitrags von Frauen aus dem soziologischen Diskurs unser Wissen über gesellschaftliche Wirklichkeit verfälscht und die Soziologie selbst immer wieder daran gehindert hat, zentrale Problemstellungen im modernen Vergesellschaftungsprozess empirisch oder theoretisch angemessen zu analysieren. Wenn die Soziologie als theoretisch und methodisch angeleitete Erfahrungswissenschaft ihre Ergebnisse und Analysen als überprüfbar und nachvollziehbar und damit als valide bezeichnen will, so muss die systematische Nichtbeteiligung einer bestimmten Kategorie von Menschen, von Frauen, an der Erforschung sozialer Sachverhalte und der Deutung ›sozialer Tatsachen‹ sowie die Nichtberücksichtigung ihres Erfahrungsraums zwangsläufig zu unvollständigen oder verzerrten Ergebnissen führen. Dies ist umso widersprüchlicher, als gerade in der Gründungszeit der neuen Wissenschaft die gesellschaftlichen Vorannahmen und Erwartungen einseitig dem weiblichen Geschlecht die Zuständigkeit für das ›Soziale‹, die Pflege und Praxis der sozialen Beziehungen überantworteten, und die Gründungsväter (allen voran Lorenz von Stein, aber auch Auguste Comte, Frédéric Le Play, Wilhelm Heinrich Riehl, ebenso Ferdinand Tönnies u.a.) den Wirkungskreis der Frau, die Familie, als soziale Basiseinheit einer von Krisen geschüttelten Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftsanalyse stellten, um ihr eine unentbehrliche, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stabilisierende Rolle zuzuschreiben.

Nun ist die besondere Nähe der Frauen zur Soziologie und zugleich die Affinität zwischen Frauenfrage und sozialer Frage in den Anfängen der Soziologie schon mehrfach thematisiert worden, suchte doch die neue um Anerkennung ringende Wissenschaft spezifische Antworten auf die Krisenphänomene der modernen Gesellschaft zu geben. Dabei stützt sich Theresa Wobbe mit ihrer These von der »Wahlverwandtschaft« zwischen der »Soziologie und den Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft« auf eine Klassikerin sozialwissenschaftlicher Frauenforschung, auf Viola Klein und ihr 1946 erschienenes Buch The Feminine Character. Denn schon Klein begründet die besondere Affinität von Frauen zur Soziologie (»the peculiar a nity between the fate of women and the origin of social science«) mit einem doppelten Argument:

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