Rezension von Claudia Kraft aus L’Homme (2, 2020)

Rezension von Claudia Kraft aus L’Homme (2, 2020):<br><br> Ute Gerhard glaubt an die positive Veränderungskraft einer liberalen Rechtsordnung. Sie ist aber zugleich überzeugt, dass nur eine feministisch informierte Rechtskritik den emanzipativen Charakter des Rechts zum Tragen kommen lässt. Ihr wissenschaftliches Oeuvre ist der Beleg dafür, dass die Zusammenschau von feministischer Rechtskritik, sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung und historischen Analysen von Geschlecht und Recht wissenschaftlich produktiv und gesellschaftspolitisch ausgesprochen relevant ist. In der vorliegenden Aufsatzsammlung erweist sie sich als eine ebenso politisch eingreifende wie rechts-, sozial- und geschichtswissenschaftlich beschlagene Analytikerin, die in der Sprache des Rechts keine Replikation eines repressiven Systems sieht, sondern ein machtvolles Instrument zur Behandlung struktureller Benachteiligung, die aus einer noch immer hierarchischen Geschlechterordnung resultiert.

Für eine andere Gerechtigkeit
Dimensionen feministischer Rechtskritik

in: L’Homme, 31. Jg. Heft 2/20, S.165-168

Ute Gerhard glaubt an die positive Veränderungskraft einer liberalen Rechtsordnung. Sie ist aber zugleich überzeugt, dass nur eine feministisch informierte Rechtskritik den emanzipativen Charakter des Rechts zum Tragen kommen lässt. Ihr wissenschaftliches Oeuvre ist der Beleg dafür, dass die Zusammenschau von feministischer Rechtskritik, sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung und historischen Analysen von Geschlecht und Recht wissenschaftlich produktiv und gesellschaftspolitisch ausgesprochen relevant ist. In der vorliegenden Aufsatzsammlung erweist sie sich als eine ebenso politisch eingreifende wie rechts-, sozial- und geschichtswissenschaftlich beschlagene Analytikerin, die in der Sprache des Rechts keine Replikation eines repressiven Systems sieht, sondern ein machtvolles Instrument zur Behandlung struktureller Benachteiligung, die aus einer noch immer hierarchischen Geschlechterordnung resultiert. Die Gliederung des Bandes zeigt eindrücklich, auf welch breitem Fundament ihre Forschungen aufruhen, in denen sowohl Interdisziplinarität als auch die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft keine bloßen Schlagworte bleiben, sondern in sprachlich luziden Analysen umgesetzt werden.

Die Texte in Teil 1 „Frauenbewegung und Recht“ drehen sich um den Beitrag, dendie Frauenbewegung(en) und der Feminismus seit der Französischen Revolution dabeigeleistet haben, Gleichheit nicht nur durch die formale Verleihung gleicher Rechte zuerlangen, sondern in immer neuen Kontexten auch darum zu kämpfen, dass in der Gleichheit auch Differenz anerkannt wurde und wird. Für Gerhard ist klar, dass politische Einmischung und die aktive Nutzung bestehenden Rechts in jedem Fall einerseit den 1990er Jahren zunehmend durch radikale Sprach- und Rechtskritik geprägten dekonstruktivistischen Geschlechterforschung vorzuziehen ist, die sie für die „Grundlagenkrise des Feminismus“ (S. 53) seit den 1990er Jahren verantwortlich macht. So sehr man ihr darin zustimmen mag, so wichtig bleibt doch eine historisch-kritische Perspektive auf die Frauenbewegung, in der auch Leerstellen und Ausblendungen immer wieder thematisiert werden. Die Darstellung liest sich teilweise wie ein in der Rechtsgeschichte häufig anzutreffendes „Durchbruchsnarrativ“,1 das sehr dezidiert herausgehobene Zäsuren benennt, um diesem Narrativ Plausibilität zu verleihen.

Bei Gerhard ist es etwa die Französische Revolution, die – repräsentiert in der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von Olympe de Gouges – den Startpunkt für das Wirken der Frauenbewegung darstellt. Hier könnte man durchaus kritisch auf den von de Gouges mehr oder weniger unverändert übernommenen Artikel 3 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ hinweisen. Dieser macht die „Nation“ und damit ein Kollektiv zur letztlichen Trägerin von Herrschaft beziehungsweise Souveränität und die bürgerliche Frauenbewegung, der die Autorin ihr Hauptaugenmerk widmet, zu einem integralen Bestandteil einer auf Ausgrenzung basierenden Ordnung. Im Rahmen letzterer wurden emanzipatorische Ziele oft einer Unterordnung unter ein (ethno-)nationales Kollektiv geopfert.

Einen weiteren „Durchbruch“ – nun für Frauenrechte als Menschenrechte – konstatiert Gerhard für das Jahr 1993, als auf der ersten UN-Menschenrechtskonferenz Frauenrechte als zentraler Gegenstand auf der Agenda universaler Menschenrechte etabliert wurden. Hier könnte man entgegnen, dass sie die Geschichte des Kalten Krieges und das Ringen zwischen Ost und West um unterschiedliche Menschenrechtskonzepte völlig ausblendet, wie auch generell der Beitrag der sozialistischen Frauenbewegung für die Formulierung von Frauenrechten eher als eine Defizitgeschichte erzählt wird. Damit wird aber ein wichtiger Strang der Rechtsentwicklung, nämlich der Kampf um materielle Rechte, marginalisiert. Man versteht jedoch die internationale Rechtsentwicklung und etwa das Zustandekommen des „Übereinkommens zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau“, das von der UNO 1979 verabschiedet wurde und das ausführlich thematisiert wird, nicht vollständig, wenn man den immensen Einfluss des sozialistischen Lagers ausblendet, das in den 1970er Jahren nicht nur die Interessen der „Zweiten“, sondern auch großer Teile der „Dritten Welt“ vertrat. Eine (kritische) Historisierung auch dieser Traditionslinie der Rechtsentwicklung erscheint folglich für eine vollständige Historisierung unabdingbar.2

Ein solche umfassende Historisierung nimmt die Autorin sehr viel stärker in Teil 2 des Buches „Zur Geschichte der Frauenrechte und den Kämpfen um Anerkennung“ vor. Hier wird klar, dass sie sich keinerlei Illusionen über die in das Rechtssystem derbürgerlichen Gesellschaft eingeschriebene strukturelle Benachteiligung von Frauen macht. Am Beispiel der Folgen bürgerlicher Privatrechtsordnungen für Frauen zeigt sie für eine Vielzahl europäischer Länder im 19. Jahrhundert, wie nachhaltig das Zusammenwirken von Rechtsbestimmungen und einer damit fixierten geschlechtlich codierten Arbeitsteilung die Durchsetzung von Gleichberechtigung erschwerte. Am Beispiel des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland und Großbritannien wird auch die seit dem 19. Jahrhundert voranschreitende Demokratisierung einer kritischen Analyse unterzogen, musste die Frauenstimmrechtsbewegung doch gerade in Ländern mit älteren parlamentarischen Traditionen besonders lange um das Stimmrecht kämpfen. Generell kann festgehalten werden, dass das Frauenwahlrecht seltener als Konsequenz eines deliberativen politischen Prozesses, sondern zumeist in gesellschaftlichen Krisen- und Ausnahmesituationen verliehen wurde. In dem Beitrag zur Gleichstellungspolitik der Europäischen Union entwickelt Gerhard die These, dass sich der Wechsel der Bezugsebene von der demokratischen Ordnung der Nationalstaaten hin zu einer sich anfänglich als Wirtschaftsgemeinschaft verstehenden, sich aber zunehmend auch als Rechtsgemeinschaft konstituierenden europäischen Gemeinschaft positiv auf die rechtliche Gleichstellung von Frauen auswirkte.

Gerhards Analysen finden ihren argumentativen und gegenwartsbezogenen Höhepunkt im dritten Teil des Buches, der sich mit der „Gesellschaftskritik in der Geschlechterperspektive“ beschäftigt. In einer wissensgeschichtlichen Perspektive auf die Geschichte der Soziologie verdeutlicht sie zunächst, dass durch die systematische Einbeziehung der Geschlechterdifferenz in die Methoden und Gegenstände der Sozialwissenschaften ein fundamental neues Konzept gesellschaftlicher Solidarität entwickelt werden kann. Im Zentrum der sich daran anschließenden Analysen steht die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die am Beispiel einer feministisch inspirierten Kritik von Ehe und Familie auf den Prüfstand gestellt wird. An diesem Gegenstand erweist sich die Reflexion über Gleichheit in der Differenz als besonders produktiv. Die Autorin kritisiert nicht nur den traditionellen Ehediskurs, in dem über die Entgegensetzung von „Liebe“ und „Recht“ das Nachdenken über Gerechtigkeit in den Ehe- und Familienbeziehungen lange Zeit verunmöglicht wurde. Auch neue (neoliberale) Konzepte, die die Trennung zwischen Erwerbs- und Hausarbeit verschleiern und nur noch von „adult workers“ sprechen, lehnt sie ab, weil damit keine umfassende gesellschaftliche Solidarität verbunden ist, wie etwa das neue bundesrepublikanische Unterhaltsrecht von 2008, das ein Ende „nachehelicher Solidarität“ verkündete, oder die Auslagerung von ehemals unbezahlter Haus- und Pflegearbeit an neue Unterprivilegierte – in diesem Fall Migrant*innen – belegen. Gerhard plädiert für eine innovative Perspektive auf gesellschaftliche Arbeitsteilung, indem sie an die aktuellen Debatten über Careals „einem Schlüsselkonzept für eine zukunftsfähige Gesellschafts- und Sozialpolitik“ (S. 325) anschließt. Sie hat dabei nicht nur eine Rekalibrierung der geschlechtlichen, sondern auch der internationalen Arbeitsteilung im Blick und fordert nachdrücklich ein neues Nachdenken über gesellschaftliche Solidarität, in der Geschlecht als eine von vielen Quellen der Ungleichheit ernst genommen wird. Ein analytisch überzeugenderer und gesellschaftspolitisch relevanterer Kommentar zurgegenwärtigen Krise im Zeichen des Corona-Virus’ ist wohl kaum vorstellbar.

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