Rezension von Katrin Meyer

Ein Plädoyer für die Sprache der Menschenrechte.
Ute Gerhard zur Geschichte und Aktualität feministischer Rechtskritik

in: ethik und gesellschaft 1/2020

Wer verstehen will, wie sich in europäischen Gesellschaften das Prinzip der Rechtsgleichheit historisch und systematisch entwickelt hat, kann die Geschichte feministischer Bewegungen und Theoriebildungen nicht außer Acht lassen. Insbesondere die Geschichte der feministischen Rechtskritik macht deutlich, welches Potenzial dem Gleichheitsprinzip als Grundlage der Entfaltung und Ausweitung der Menschenrechte innewohnt, aber auch, wo seine Kehrseiten und Fallstricke liegen. Feministische Visionen von Gerechtigkeit haben in der einen oder anderen Weise immer mit den Grenzen des abstrakten Gleichheitsprinzips gerungen und auf ein Problem aufmerksam gemacht, das für jede Überwindung gesellschaftlicher Diskriminierung relevant ist: Substanzielle Gleichstellung kann nicht auf formale Rechtsgleichheit und Antidiskriminierung reduziert werden, sondern muss materielle, soziale und politische Gleichstellung miteinbeziehen. Das bedeutet auch, dass Gleichheit, insbesondere zwischen Geschlechtern, nicht einfach den weißen männlichen bürgerlichen Standard von Lebens- und Arbeitsformen zum allgemeinen Maßstab erheben darf. Rechtsgleichheit muss auf die unterschiedlichen sozialen Ausgangsbedingungen von Menschen Rücksicht nehmen und Gleichheit auch für ›Ungleiche‹ garantieren können.

Ute Gerhard, die bis 2004 Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe- Universität Frankfurt am Main war, hat seit den 1980er-Jahren mit zahlreichen Forschungen zu einem feministischen Verständnis von Recht und Geschlechtergerechtigkeit beigetragen. Der 2018 erschienene Band Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik versammelt ältere und neuere Texte Gerhards zu dieser Thematik und bietet einen vertieften Überblick über den aktuellen Stand und die Entwicklung von Frauenrechten bis zur Gegenwart. Im Zentrum des Buches steht die These, dass das Recht trotz aller Begrenzungen ein entscheidendes Instrument – eine »befreiende Kraft« (14) – ist, um eine geschlechtergerechte Gesellschaft zu gestalten und auch in Zukunft weiterentwickeln zu können.

Der Band setzt drei Schwerpunkte. Im ersten Teil (19–132) geht es um systematische Überlegungen zum Verhältnis von Feminismus und Recht. Im Aufsatz ›Nicht nur Gleichberechtigung – Frauenbewegung, Feminismus und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik‹ rekonstruiert Gerhard die unterschiedlichen Entwicklungen und thematischen Verschiebungen der seit den 1970er-Jahren einsetzenden Neuen Frauenbewegung in Westdeutschland und der gegenläufig dazu betriebenen Frauenpolitik in Ostdeutschland sowie neuere Entwicklungen in feministischen Theorien, die insbesondere seit den 1990er-Jahren durch den dekonstruktivistisch-poststrukturalistischen Ansatz von Judith Butler und der queer theory geprägt wurden. Dass dabei, so Gerhards Einschätzung, das Recht im poststrukturalistischen Feminismus »diskreditiert« (57) werde, hält sie für einen schwerwiegenden Fehler, da es das emanzipatorische Potenzial von Recht unterschätze.

Im Aufsatz ›Wozu Menschenrechte? Über Unrechtserfahrungen oder das Aussprechen einer Erfahrung mit Recht, das (bisher) keines ist‹ macht Gerhard deutlich, dass der internationale Menschenrechtsdiskurs, wie er mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 angestoßen wurde, Frauen überhaupt erst die Möglichkeit bot, Unrechtserfahrungen zu benennen und öffentlich zu machen. Für Gerhard gilt: »Unrechtserfahrungen brauchen eine Sprache, um als solche formuliert zu werden.« (97) Dass die universalen Menschenrechte eine solche Sprache bieten, schließt nicht aus, dass deren Umsetzung umstritten und Vorbehalten ausgesetzt ist. Gerhard beschreibt den schwierigen Weg der Institutionalisierung von Frauenrechten seit den 1970er-Jahren in Bezug auf die Meilensteine der internationalen (Frauen-)Konferenzen in den 1980er- und 1990er-Jahren (u.a. Nairobi 1983, Wien 1993, Peking 1995) und der Ausarbeitung von internationalen Übereinkommen, insbesondere der Frau- enrechtskonvention CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women), die 1979 von der UNO- Generalversammlung verabschiedet wurde und als »Magna Charta der Frauenrechte« (108) gilt – eine Charta notabene, die bis heute von den USA nicht ratifiziert wurde.

Für die Ausarbeitung einer internationalen feministischen Agenda besonders wichtig waren auch die in den 1980er-Jahren geführten Debatten zwischen Frauen aus dem globalen Süden und Norden, in denen es um eurozentristische und postkoloniale Vorstellungen von individueller Gleichheit und reproduktiven Rechten ging. Der Satz »Frauenrechte sind Menschenrechte«, der im Abschlussdokument der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing formuliert wurde, ist für Gerhard darum bedeutsam, weil damit die als privat und partikular abgewerteten Unrechtserfahrungen von Frauen in das Konzept von Menschenrechten Eingang finden konnten. Das Statement war keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis von zähen Verhandlungen zwischen Staaten, NGOs und religiösen Autoritäten, die sich gegen die Ausweitung von Genderrechten auf nicht normierte Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten wehrten. Dass mehr als zwanzig Jahre nach Peking bezogen auf den Schutz von Frauen vor Gewalt und Diskriminierung »Ernüchterung« (124) eingetreten ist, schließt für Gerhard nicht aus, dass Frauen- und Menschenrechte gerade in der heutigen Zeit, die von Krieg und Terror sowie rechtsextremen und antifeministischen Politiken bedroht ist, umso stärker verteidigt werden müssen. Frauen- und Menschenrechte dürften, so Gerhard, nie als »Luxusproblem« (124) behandelt werden. Dabei kommt zum Tragen, was Gerhard an anderer Stelle als doppelte Dimension des Feminismus definiert: dass es dabei um die »Befreiung« jeder einzelnen Frau, aber auch um eine »grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft« hin zu einer gerechten Ordnung gehe (78).

Im zweiten Teil des Buches (133–248) behandelt Gerhard die Geschichte der Frauenrechte und der feministischen Kämpfe im 19. und 20. Jahrhundert. Der Beitrag ›Der Kampf um das Frauenwahlrecht – Deutschland und England im Vergleich‹ beschreibt die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Ländern. In England formieren sich bereits früh, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, organisierte Frauenvereine, die aus einer ›besitzindividualistischen‹ Perspektive mit dem Slogan ›no taxation without representation‹ (198) für das Frauenwahlrecht kämpfen, während dieser Prozess in Deutschland erst einige Jahrzehnte später einsetzt. Mitverantwortlich dafür war auch, dass den Frauen in Deutschland nach 1848 während Jahrzehnten die organisierte, politische Vereinstätigkeit verboten wurde. Gerhard weist zudem auf die unterschiedlichen Strategien in beiden Ländern hin. Die Frauenorganisationen in Großbritannien bildeten übergreifende Koalitionen. Sie fanden sich zu einem pragmatischen Konsens, indem sie für Frauen – analog zum Männerwahlrecht – ein an Besitz gebundenes Wahlrecht einforderten. In Deutschland dagegen zerstritten sich über diese Frage des limitierten oder allgemeinen Wahlrechts die deutschen Frauenvereine in der Hochphase der Frauenbewegung zwischen 1880 und 1914 »bis zur politischen Handlungsunfähigkeit« (211).

Bedenkenswert ist dabei auch, dass die Etablierung des Frauenstimmrechts in den europäischen Ländern letztlich bezugslos zur Dauer der feministischen Kämpfe oder gar demokratischen Traditionen erfolgte. So wurde das allgemeine Frauenwahlrecht in Großbritannien erst 1928, in Deutschland dagegen schon 1918 eingeführt. Ganz allgemein zeigt sich nach Gerhard an der unterschiedlichen Entwicklung des Frauenwahlrechts in Europa die grundsätzliche Ambivalenz oder »Doppelnatur von Recht« (217): Das Wahlrecht ist sowohl Ergebnis und Ausdruck von gesellschaftlichen Machtstrukturen, die es reproduziert und stabilisiert, als auch ein Mittel zur individuellen und kollektiven Ermächtigung. Tatsächlich wurde der feministische Kampf für das Frauenwahlrecht nach 1914 in Großbritannien und in Deutschland (auch) zur Konsolidierung nationalistischer oder gar mili- taristischer Politiken eingesetzt. Dennoch bleibt das Wahlrecht für Gerhard »das Paradigma von Rechten überhaupt« (218). Ausgehend von ihren Analysen drängt sich heute die Schlussfolgerung auf, dass Gleichberechtigung im umfassenden Sinn nur denkbar ist, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft das Recht und die materiellen Ressourcen für politische Teilhabe erhalten und weder durch ihren sozialen Status noch durch Nationalität und Ethnizität ausgeschlossen werden. Dabei ist auch hier im Blick zu behalten, worauf Gerhard mit einem Zitat von Otto Kirchheimer aufmerksam macht, dass nämlich politische Teilhabe immer auch Gefahr läuft, »eine bestehende Gesell- schaftsordnung zu erhalten« (217).

Im dritten Teil des Bandes (249–348) geht Gerhard näher auf gesellschaftskritische Debatten ein, die aus einer Geschlechterperspektive besonders aktuell sind. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit neuen vielfältigen Familien- und Lebensformen, die Gerhard im Beitrag ›Die neue Geschlechter(un)ordnung – Feministische Perspektiven auf Ehe und Familie‹ rekonstruiert. Sie skizziert unterschiedliche Familien- und Wohlfahrtsregimes in westeuropäischen Ländern, die Geschichte der Familienpolitik in der ›alten‹ BRD sowie die aktuelle Rechtslage für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland, wobei sie feststellt, dass das europäische Recht hier offensichtlich »zum Motor der Veränderung« (307) und der Anpassung an neue gesellschaftliche Verhältnisse wurde. Die Vorstellungen von Familie und Ehe werden heute in Deutschland in familienpolitischen Kontexten auch als freigewählte Netzwerke und Fürsorgebeziehungen verstanden, die von den traditionellen Vorstellungen einer ›natürlichen‹ Familie abgelöst werden. Dabei, so Gerhard, bleibt als zentrale Aufgabe der Gesetzgebung weiterhin die Frage, wie das Recht auf Privatheit (insbesondere bezogen auf Datenschutz und den Schutz der Wohnung) mit der Garantie subjektiver Freiheits- und Gleichheitsrechte vermittelt werden kann. Diese subjektiven Grundrechte müssen auch in privaten Räumen, Beziehungsnetzen und Fürsorgeverhältnissen geachtet werden. Wo diese Achtung fehle, so argumentiert Gerhard mit der Philosophin Beate Rössler, handle es sich eben gerade nicht um Fürsorge- und Liebesbeziehungen. Es gehe also nicht um die Frage, wie weit familiäre, private Beziehungen den öffentlichen Gerechtigkeitsprinzipien genügen müssen, sondern vielmehr um die Einsicht, dass Beziehungen, die den Gleichheits- und Freiheitsansprüchen aller Beteiligten nicht gerecht werden, keine Liebes- und Fürsorgebeziehungen sind.

Im letzten Aufsatz des Bandes mit dem Titel ›Das Konzept fürsorglicher Praxis – Care als sozialpolitische Herausforderung moderner Gesellschaften‹ untersucht Gerhard, wie das Prinzip von Care zu einer gesellschaftspolitisch-normativen Leitlinie werden kann. Gefordert ist dabei eine gesellschaftliche Reorganisation von Care-Arbeit, die Gerhard als »Zusammenfassung all der familialen und beruflichen Haushalts-, Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegetätigkeiten« (322) definiert, für die »traditionell Frauen zuständig sind« (322). Die Reorganisation dieser Aufgaben ist einerseits geschlechterpolitisch relevant, weil auch heute noch die Verantwortung für (unbezahlte) Care- Arbeiten mehrheitlich Frauen zugewiesen wird. In dieser geschlechtsspezifischen und – bezogen auf die vielen Migrant*innen im Pflegebereich – internationalen Arbeitsteilung liegt nach Gerhard einer der »Dreh- und Angelpunkte sozialer Ungleichheit im Geschlechterverhältnis« (326). Andererseits wird Care von Gerhard auch als einklagbares Grundrecht konzipiert, das – wenn es für Pflegende und Gepflegte gleichermaßen gelten soll – eine grundlegende Neuorganisation der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und der Ausrichtung öffentlicher Sozialpolitik verlangt. Hilfreich für diesen Paradigmenwechsel sind nach Gerhard Konzepte, die Care mit einer Neudefinition von Bürgerrechten (Citizenship) verbinden (vgl. 341). Care als Vision einer »sozialen Praxis und Ethik der Fürsorglichkeit« (319) verweist dabei auch auf ein anderes Menschenbild als jenes, das die westliche Philosophie und Jurisprudenz über Jahrhunderte geprägt hat und das vom autonomen und unabhängigen Individuum ausgeht. In solchen Vorstellungen, so Gerhard, wird »die männliche Lebens- und Denkweise zum Maß aller Dinge und Menschlichkeit erhoben« (354).

Gesamthaft gesehen bietet das Buch von Ute Gerhard eine umfassende und allgemein verständliche Darstellung der Theoriegeschichte des Feminismus im 20. Jahrhundert, der Entwicklung von Frauenrechten seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart sowie der langen und weitverzweigten Geschichte internationaler Frauenorganisationen. Es eignet sich darum auch besonders gut als fundierte Einführung und Überblicksdarstellung in diese geschlechtertheoretisch und gesellschaftspolitisch wichtige Thematik. Gerhards Perspektive ist dabei eindeutig und konsequent auf das Verhältnis von Frauen und Recht und damit auf die Bedeutung rechtlicher Institutionen für eine feministische Politik gerichtet. Gerhard interessiert sich für die Kontinuität, die Konfliktlinien und die Beharrlichkeit, mit der sich feministische Anliegen mithilfe der Sprache des Rechts in konkrete gesellschaftliche Institutionen einfügen lassen und dadurch wirkmächtig werden. Ausgeklammert bleiben dabei theoretische und methodologische Überlegungen, wie etwa jene zur Bedeutung von Transgender und Transsexualität und den damit verbundenen Her- ausforderungen für aktuelle feministische Politiken. Hier wäre es produktiv, die unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen nicht nur von Cis- und Trans-Frauen, sondern auch von Trans*Personen und sexuellen Minderheiten in den Blick zu nehmen und die unterschiedlichen Unrechtserfahrungen miteinander zu verknüpfen. Wenn es ein Ziel intersektionaler, queer-feministischer Politik ist, die Gleichheit der Menschenrechte gerade für die ›Ungleichen‹ zu garantieren, so verlangt diese Aufgabe eine kontinuierliche Offenheit und Sensibilität für alle Formen des Sprechens, in denen sich Ansprüche auf ein Menschenrecht artikulieren, ›das (bisher) keines ist‹.

Katrin Meyer (2020), (*1962, Prof. Dr. phil., Departement Künste, Medien, Philosophie, Universität Basel, und Oberassistentin für Gender Studies an der Universität Zürich)
Rezension: Ein Plädoyer für die Sprache der Menschenrechte. Ute Gerhard zur Geschichte und Aktualität feministischer Rechtskritik. (Ethik und Gesellschaft 1/2020: Kritik der Identitätspolitik).

Download unter: https://dx.doi.org/10.18156/eug-1-2020- rez-3 (Zugriff am 30.11.2020).

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