Differenz

Differenz und Gleichheit

Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht

Herausgegeben von Ute Gerhard, Mechthild Jansen, Andrea Maihofer, Pia Schmid, Irmgard Schultz
Frankfurt am Main: Ulrike Helmer 1990
ISBN 3 927164 11 9

Die großen Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen – also auch der Frauen — haben bis heute vorrangig dem bürgerlichen Mann gegolten. Das Zeitalter der Aufklärung eröffnete den Frauen zwar Anwartschaft auf Rechtsgleichheit, aber gleichzeitig setzte eine neue Geschlechterideologie das weibliche Geschlecht mit Unvernunft und Natur gleich. Frauen wurden aus der politischen Öffentlichkeit verdrängt und ins Haus verwiesen.
Die Einsicht in diese »Geschlechter-Dialektik der Aufklärung« läßt Frauen eine eigene Debatte um das »Ende der Aufklärung« und die »Moderne« führen. Der feministische Blick in die Geschichte der »Brüderlichkeit« dient der Neubewertung aktueller Themen: So zeigt etwa die Entwicklung der Gen- und Reproduktionstechnologien, wie wichtig die Frage nach den Menschenrechten als Frauenrechten ist.
Können weibliche Emanzipationskonzepte sich heute noch auf eine Tradition der Gleichheit beziehen, in der weibliche Menschen ausgeblendet wurden? Liegt die Alternative in der Theorie und Praxis der Geschlechterdifferenz, wie sie vor allem französische und italienische Feministinnen entwickelt haben? Oder ist eine Verbindung von Differenz und Gleichheit denkbar?


Einleitung

»Differenz und Gleichheit« war das zunächst heimliche und dann immer ausdrücklichere Thema des internationalen Frauenkongresses »Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. 200 Jahre Aufklärung —200 Jahre Französische Revolution« vom 5. bis 8. Oktober 1989 in Frankfurt, der mit diesem Band dokumentiert wird. Der Kongreß, seine Thematik und der Rahmen, hat über den Kreis der Frauenbewegung und Frauenforschung hinaus in der Öffentlichkeit überraschenden Zuspruch und erfreuliches Interesse gefunden. Offensichtlich erwiesen sich die feministischen Fragen nach der Gültigkeit der Menschenrechte auch als Frauenrechte als gesellschaftlich und politisch hochbrisant und aktuell. Ganz gleich, um welche Problemstellung es ging, um die Geschichte der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft, die zugleich die Geschichte ihrer Ausschließung ist, um verschiedene Emanzipationskonzepte der Alten und der Neuen Frauenbewegung, um Geschlechterrollen und das Bild der Frau oder um den Begriff des Privaten als des Politischen, die Diskussion lief immer wieder auf das Spannungsverhältnis von Gleichheit und/oder Differenz hinaus.

Im Thema: »Die Menschenrechte haben kein/ein Geschlecht« — in dieser Variation des Themas angezeigt durch ein eingeklammertes (k) — drückt sich die Doppeldeutigkeit und Spannung unserer Fragestellung aus, die die Diskussion der Arbeitsgruppen wie ein roter Faden durchziehen. Die Forderung »die Menschenrechte haben kein Geschlecht«, in dieser Formulierung zum erstenmal von Hedwig Dohm gebraucht, war die Parole der liberalen, auch der radikal bürgerlichen Frauenbewegung — heute gekennzeichnet als humanistischer Feminismus. Sie reklamiert die Einlösung der Versprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, des Staatsbürgertums und der allgemeinen Gesetze auch für Frauen. Und sie verspricht sich hiervon in seiner radikalen Variante eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Denn Gleichheit und materiale Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht auch für Frauen sind nicht nur als Erweiterung des bürgerlichen Gesellschaftsprogramms zu verstehen, sondern beinhalten eine Radikalisierung, denn sie zielen auf die Aufhebung patriarchaler Macht und der Kontrolle über Frauen.

Doch all dies blieb bisher Entwurf, unerledigtes Programm, und es fragt sich ob es je ein realistisches, wirklich allgemein menschliches Vorhaben war. Denn die Rechtswirklichkeit sieht anders aus: »Die Menschenrechte haben ein Geschlecht«. Diese bis heute gültige Erfahrung der Frauen hat schon Olympe de Gouges, aber auch Mary Wollstonecraft zur Zeit der Französischen Revolution zu Protest und Widerspruch veranlaßt: »Mann, bist Du fähig gerecht zu sein? Eine Frau stellt Dir diese Frage. Sage mir, wer hat Dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?« So lautet der Anfang der »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« von Olympe de Gouges aus dem Jahre 1791.

Daß die Menschenrechte vorerst Männerrechte blieben, möglicherweise nur als solche gemeint waren, wird belegt, ja »legalisiert« im Ausschluß der Frauen von fast allen Bürgerrechten, im Verbot ihrer politischen Betätigung, insbesondere der Frauenclubs und Frauenvereine und in der Legalisierung patriarchaler Vorrechte gerade auch im französischen Code civil.

Die Thematik »Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht« traf offensichtlich ins Zentrum der gegenwärtigen feministischen Debatte, einer politischen und wissenschaftlichen Kontroverse, die international geführt wird. Denn es ist die Frage,
— ob Gleichheit oder Differenz, also die Verschiedenheit der Frauen und die Verschiedenheit der Geschlechter, der Bezugspunkt eines anderen, auch die weibliche Lebensweise umfassenden Rechts sein sollte;
— ob es, wie die Aufklärung versprach, universale Kriterien für Gerechtigkeit gibt, oder ob wir Frauen eine andere Moral, eine neue Ethik vertreten können und sollen.

Und wir sind uns nicht einig, welche Bilder von »Weiblichkeit« wir jenseits polarisierter Geschlechterrollen haben, welchen Begriff von Vernunft und Natur des Menschen und welches Konzept von Emanzipation. Aber auch das Motto der neuen Frauenbewegung, »das Private ist politisch«, macht nur Sinn, wenn wir verhindern können, daß es konservativ mißbraucht wird und das Private den Frauen wiederum in traditioneller Weise als Aufgabe angedient wird.

Trotz der Abnutzung und politischen Polemik im zwischenstaatlichen Umgang mit den Menschenrechten trotz des andauernden Unrechts und der Rechtsverletzungen haben die Menschenrechte noch immer einen »heeren Klang«. Sie wecken die Erwartung, viele Probleme lösen, alles Unrecht dieser Welt beseitigen zu können. Und gerade auch für Frauen stellt sich die Frage nach Recht, Gerechtigkeit und Verletzung der Menschenrechte hier und heute sehr konkret. Denn Frauen erleiden besondere, sexistische Formen der Verletzung ihrer Würde und ihres Rechts auf körperliche und seelische Integrität durch Folter, sexuellen Mißbrauch, Vergewaltigungen, durch Mädchenhandel und Frauenverbrennungen, und sie leiden unter den Folgen einer neuen frauenverachtenden Technologie. Eine der aktuellsten und brisantesten Gefährdungen für Frauen, die Auswirkungen der neuen Reproduktionstechnologien als Menschenrechtsproblem zu diskutieren, war daher Thema einer besonderen Arbeitsgruppe. Daß es uns trotz unserer Bemühungen nicht gelungen ist, die Probleme des Rassismus, die besondere Diskriminierung von Ausländerinnen und Asylantinnen etwa, zu einem eigenen Thema zu machen, läßt sich mit dem Verweis auf organisatorische Probleme und erhaltene Absagen allein nicht erklären, sondern verweist auf eine Begrenztheit innerhalb der bundesrepublikanischen Diskussion: die hiesige Frauenbewegung kennt und diskutiert zwar seit langem einzelne Asylantinnen- und Ausländerinnenprobleme, hat aber dennoch keine theoretische oder politisch dominante Debatte um das Verhältnis von Rasse, Körper, Klasse und Geschlecht geführt, wie dies etwa in den USA der Fall war. Ebenso fehlt trotz der theoretischen Analyse der Situation von Frauen in den anderen Teilen der Welt eine politische Auseinandersetzung zwischen den Frauenbewegungen der ersten, zweiten und dritten Welt. So schreibt Myra Marx Ferree: »Eine Konferenz wie diese hätte in den USA heutzutage nicht ohne die aktive Beteiligung rassisch diskriminierter Frauen stattfinden können. Die stürmische Diskussion dieser Frage hier auf der Tagung spiegelt eine noch marginale, aber wachsende Einsicht in die Bedeutung der sich überschneidenden Unterschiede zwischen Frauen wider.«

Zudem war das Konzept der Tagung auch nicht darauf angelegt, einzelne aktuelle Formen der Unterdrückung und Mißachtung von Frauen kritisch aufzuzeigen und zu bearbeiten. Es ging uns vielmehr sehr viel grundsätzlicher um eine Analyse und Erörterung der strukturellen Gründe der gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung der Frau in den sich selbst so fortschrittlich verstehenden westlichen Gesellschaften. Die 200-Jahrfeier der Französischen Revolution schien uns ein sinnvoller Anlaß zu einer kritischen Reflexion über die Bedeutung der Aufklärung und der Menschenrechte aus der Sicht der Frau.

Die Aufklärung hatte sich selbst verstanden als kritische Abkehr von der feudalen Ständegesellschaft und deren gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, aber auch ganz grundsätzlich als politischer, rechtlicher und kultureller Neubeginn. Kernpunkt dieses Denkens war die Forderung nach gesellschaftlicher und politisch-rechtlicher Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit und einem vernunftbestimmten Leben für alle Menschen. Die Menschenrechte wurden als die natürlichen Rechte gedacht, die jedem Menschen als ursprünglich autonomem, freiem, gleichem und vernunftbegabtem Individuum zukommen. Die » Déclaration des droits de l’homme et du citoyen « von 1789 klammerte jedoch ausdrücklich die Frauen aus, denn die Trias Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war offenbar nicht nur metaphorisch gemeint. Überdies war der Diskurs der Menschenrechte historisch zwar insoweit ein großer Fortschritt, als sich in ihm die (männlichen) Menschen endlich wechselseitig als Menschen anerkannten, zugleich aber reduzierte er die Frauen auf ihre Geschlechtsnatur und auf ihre angeblich natürliche Rolle als Frau. Die feministische Forschung hat inzwischen gezeigt, daß dieser Ausschluß der Frauen und ihre allgemeine Unterprivilegierung nicht lediglich ein »faux pas« der Geschichte waren, sondern ein strukturelles Problem der bürgerlichen Gesellschaft sind. Sie hat in den letzten Jahren aus der Erkenntnis des Widerspruchs zwischen aufklärerischem Gleichheitsanspruch und der durch die Geschlechterhierarchie geprägten Lebensrealität von Frauen insbesondere die Konzeptionen von Vernunft, menschlicher Natur und bürgerlicher Identität problematisiert und damit eine »Geschlechter-Dialektik der Aufklärung« deutlich gemacht.

Der vorliegende Band dokumentiert die überarbeiteten Beiträge zu den einzelnen Arbeitsgruppen des Kongresses. Wir haben uns an die Abfolge des Programms gehalten, um den Fortgang der Diskussionen nachzuzeichnen. Ein Gewinn der Überarbeitung ist sicherlich eine verstärkte Bezugnahme der einzelnen Beiträge aufeinander. Wir danken allen, die durch Engagement, Mitwirkung und Kritik zum Gelingen dieses Kongresses beigetragen haben — nicht zuletzt den studentischen Hilfskräften und den Übersetzerinnen. Die Vorbereitung des Kongresses ist Beispiel einer gelungenen Kooperation zwischen Frauen aus der autonomen Frauenbewegung, insbesondere um den Frankfurter Frauenbuchladen, und institutionalisierter Frauenforschung und Frauenbildungsarbeit. Zur Vorbereitungsgruppe gehörten außer den Herausgeberinnen Beate Collin, Christel Brunn, Barbara Ophoven und Barbara Werner. Für gute Zusammenarbeit und großzügige Unterstützung danken wir insbesondere der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Universität Frankfurt, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem Kulturdezernat und dem Frauendezernat der Stadt Frankfurt.

Die Herausgeberinnen  


Inhalt

Einleitung  der Herausgeberinnen

Rossana Rossanda
Differenz und Gleichheit


I. DIE BEDEUTUNG DER FRAUEN IN DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION

Frauke Stübig
Was geschah eigentlich vor 200 Jahren? Ein Rückblick auf die Französische Revolution auch aus weiblicher Sicht

Viktoria Schmidt-Linsenhoff
Frauenbilder und Weiblichkeitsmythen in der Bildpublizistik der Französischen Revolution

Susanne Petersen
Frauendifferenzen in der Revolution

Brigitte Rauschenbach
Brüderlichkeit und Selbständigkeit. Anmerkungen zu dem Problem, männliche Topoi aus weiblicher Sicht anzueignen


II. VERSCHIEDENE EMANZIPATIONSKONZEPTE DER FRAUENBEWEGUNG

Frigga Haug
Tagträume eines sozialistischen Feminismus

Adriana Cavarero
Die Perspektive der Geschlechterdifferenz

Cornelia Klinger 
Welche Gleichheit und welche Differenz?  

Annedore Prengel
Gleichheit versus Differenz — eine falsche Alternative im feministischen Diskurs

Veronika Bennholdt-Thomsen
Kommentar zu den Vorträgen von Frigga Haug und Adriana Cavarero


III. REPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN UND MENSCHENRECHTE

Jalna Hanmer
Meine Gebärmutter gehört mir?

Renate Klein
Zum »Recht« auf Reproduktion im Patriarchat

Sibylla Flügge
Teile und herrsche
 
Heidrun Kaupen-Haas
Reproduktive Rechte von Frauen oder Bevölkerungspolitik. Thesen über Heilkünste von Frauen in historischer Perspektive

Renate Sadrozinski
Anmerkungen zum Thema Abtreibung und Selbstbestimmung


IV. DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG UND DIE GEGENWÄRTIGE RECHTSSTELLUNG DER FRAU IN DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT

Ute Gerhard
Bürgerliches Recht und Patriarchat

Catharine A. MacKinnon
Feministische Rechtspolitik heute

Doris Alder
Freiheit, Gleichheit … und die »Natur« der Frau

Ursula Vogel
Zwischen Privileg und Gewalt: Die Geschlechterdifferenz im englischen Common Law


V. DER AUSSCHLUSS DER FRAUEN AUS DEN MENSCHEN-RECHTEN UND DIE GESCHLECHTERIDEOLOGIE VON DER »NATÜRLICHEN BESTIMMUNG DER FRAU«

Lieselotte Steinbrügge
Wer kann die Frauen definieren? Die Debatte über die weibliche Natur in der französischen Aufklärung

Claudia Honegger
Sensibilität und Differenz

Ulrike Prokop
Lebenspraxis und Phantasmen der bürgerlichen Kulturheroen

Elvira Scheich
»Natur« im 18. Jahrhundert und die Bestimmung der Geschlechterdifferenz

Pia Schmid
Zur Durchsetzung des bürgerlichen Weiblichkeitsentwurfs


VI. »DAS PRIVATE IST POLITISCH« ODER ZUR GESCHLECHTER-PROBLEMATIK IM BÜRGERLICHEN DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS

Karin Hausen
Überlegungen zum geschlechtsspezifischen Strukturwandel der Öffentlichkeit

Myra Marx Ferree
Gleichheit und Autonomie: Probleme feministischer Politik

Regina Becker-Schmidt
Hegemonie und Agonalität — Kategorien einer feministischen Machtkritik

Barbara Holland-Cunz
Perspektiven der Ent-Institutionalisierung. Überlegungen zur feministischen Praxis

Ilona Ostner
»Hegels Dilemma«


VII. MENSCHENRECHTE HABEN (K)EIN GESCHLECHT?

Friederike Hassauer
Weiblichkeit — der blinde Fleck der Menschenrechte?  

Luce Irigaray
Über die Notwendigkeit geschlechtsdifferenzierter Rechte

Andrea Maihofer
Gleichheit nur für Gleiche?

Autorinnen und Herausgeberinnen

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