Rechtsalltag von Frauen

Frauen in der Geschichte des Rechts

Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Herausgegeben von Ute Gerhard
Verlag C.H. Beck, München 1997
ISBN 3 406 42866 5


Aus dem Geleitwort von Jutta Limbach

«Eine historische Rückschau dient nicht allein dem Zweck, unser Wissen über die soziale Lage und Rechte früherer Frauengenerationen zu vervollständigen. Vielmehr gilt es zu bedenken, dass historisch fundiertes Denken und Entscheiden dem kurzatmigen Reagieren auf die Herausforderungen der Gegenwart allemal überlegen ist.»

Das Buch dokumentiert erstmals unseren Stand des Wissens über die Rechtsstellung von Frauen im deutschsprachigen Raum seit der Frühen Neuzeit. Es stellt die Frage, ob und inwieweit rechtliche Normen für Männer und Frauen unterschiedliche Geltung beanspruchten, ob und wie diese Differenzen begründet wurden und in welcher Weise sich die Begründungen wie auch das positive Recht selbst im Lauf der Zeit verändert haben. Untersucht werden aber nicht nur die Rechtsnormen in den Bereichen des öffentlichen Rechts, des Zivilrechts und des Strafrechts, sondern es werden ebenso die – oft abweichende – Rechtswirklichkeit, die Alltagspraxis, die Rechtsprechung sowie die Diskurse über Recht und Unrecht beleuchtet. Um der interdisziplinären Aufgabenstellung gerecht zu werden und um möglichst alle Themenbereiche berücksichtigen zu können, sind in diesem Band 44 Beiträge von juristischen, sozialwissenschaftlichen und historischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen versammelt. Das Handbuch trägt damit bereits bekanntes Wissen zusammen und bietet zugleich die Ergebnisse neuester Forschungsarbeiten an. Es schließt gravierende Lücken auf dem Gebiet der Frauenrechtsgeschichte, zeigt aber auch die noch bestehenden Forschungsdefizite einer Rechtsgeschichte auf, die lange die Tatsache der Geschlechterdifferenz ignorierte. Ein Grundlagenwerk, das sich an Studierende und Lehrende aus den Bereichen Jura, Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte wendet; ein Grundlagenwerk auch insofern, als es gelingt, einen wichtigen Teil unseres heutigen Rechtslebens in seiner historischen Dimension zu erschließen.


Rezensionen:

Susanne Baer, in: Zeitschrift für Germanistik  9/1999, 1

Christa Mahrad, Feministische Studien 16. Jg/1998 Nr. 2, S. 160-166


Inhalt

Jutta Limbach: GELEITWORT

Ute Gerhard EINLEITUNG

DANKSAGUNG


ERSTER TEIL

Die Ordnung der Geschlechter in der Ständegesellschaft der Frühen Neuzeit


Stand und Geschlecht

Heide Wunder: Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit

Gerhard Dilcher:  Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht

Kirchliches und ziviles Recht

Elisabeth Koch:  Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen

Luise Schorn-Schütte: Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus

Stephan Buchholz:  Ehescheidungsrecht im späten 17. Jahrhundert:
Marie Elisabeth Stoffelin und der Husar

Frauenerwerb: Beispiele rechtlicher Regelungen

Renate Dürr:  «Der Dienstbothe ist kein Tagelöhner . . .» Zum Gesinderecht (16. bis 29. Jahrhundert)

Sibylla Flügge:  Die gute Ordnung der Geburtshilfe. Recht und Realität am Beispiel des Hebammenrechts der Frühneuzeit

Susanne Schötz:  Handelsfrauen im neuzeitlichen Leipzig: Gewerberecht und Lebenssituationen (16. bis 19. Jahrhundert)

Helfried ValentinitschBettlerinnen in Österreich (16. bis 18. Jahrhundert)

Frauen im Strafrecht und Strafprozeß

Helga Schnabel-Schüle:  Frauen im Strafrecht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert

Ingrid Ahrendt-Schulte:  Hexenprozesse

Isabel V. Hull:  Sexualstrafrecht und geschlechtsspezifische Normen in den deutschen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts

Otto Ulbricht:  Kindsmord in der Frühen Neuzeit
 
Günter Jerouschek:  Die juristische Konstruktion des Abtreibungsverbots

ZWEITER TEIL

Gleichheitspotentiale der Aufklärung und die Befestigung hierarchischer Geschlechterverhältnisse: 1780 bis 1850


Gleichheit und Ungleichbehandlung in den naturrechtlichen Privatrechtskodifikationen

Ursula Vogel:  Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft —Widersprüche der Aufklärung
 
Ursula Floßmann:  Die beschränkte Grundrechtssubjektivität der Frau. Ein Beitrag zum österreichischen Gleichheitsdiskurs

Eherecht und außereheliche Mutterschaft

Beate Harms-Ziegler:  Außereheliche Mutterschaft in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert

Edith Saurer:  Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790-1850)
 
Verena Pawlowsky:  Die Mütter der Wiener Findelkinder. Zur rechtlichen Situation ledig gebärender Frauen im 18. und 19. Jahrhundert

Frauen im Strafrecht

Regina Schulte:  Strafrechtlicher Entwurf und Lebenswirklichkeiten von Kindsmörderinnen im 19. Jahrhundert

Die Geschlechtsvormundschaft

Ernst Holthöfer:  Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick von der Antike bis ins 19. Jahrhundert

Susanne Weber-Will:  Geschlechtsvormundschaft und weibliche Rechtswohltaten im Privatrecht des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794

David Warren Sabean:  Allianzen und Listen: Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert

Regula Gerber Jenni:  Rechtshistorische Aspekte des bernischen Emanzipationsgesetzes von 1847

Annamarie Ryter:  Die Geschlechtsvormundschaft in der Schweiz: Das Beispiel der Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt


DRITTER TEIL

Die Kämpfe um Gleichberechtigung und die Gestaltung neuer Rechtswirklichkeiten im 19. und 20. Jahrhundert


Teilhabe an bürgerlicher Öffentlichkeit

Ute Gerhard:  Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit

Birgitta Bader-Zaar: Bürgerrechte und Geschlecht. Zur Frage der politischen Gleichberechtigung von Frauen in Österreich, 1848-1918

Romina Schmitter:  «Geehrte Männer [. . .] sagt — wie konntet ihr uns vergessen?» Bürgerinnenrechte im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel der Freien Hansestadt Bremen

Ernst Holthöfer:  Die Rechtsstellung der Frau im Zivilprozeß

Gudrun Kling:  Die rechtliche Konstruktion des «weiblichen Beamten». Frauen im öffentlichen Dienst des Großherzogtums Baden im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Kristine von Soden:  Auf dem Weg in die Tempel der Wissenschaft. Zur Durchsetzung des Frauenstudiums im Wilhelminischen Deutschland


Die Privatrechtsentwicklung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und die Forderungen der Frauenbewegung

Barbara Dölemeyer:  Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts

Dirk Blasius:  Reform gegen die Frau: Das preußische Scheidungsrecht im frühen 19. Jahrhundert

Stephan Buchholz:  Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Frauen: zur Kritik des Ehegüterrechts

Beatrix Geisel:  Patriarchale Rechtsnormen «unterlaufen». Die Rechtsschutzvereine der ersten deutschen Frauenbewegung

Ida Raming:  Stellung und Wertung der Frau im kanonischen Recht

Soziale Rechte und Fragen der «Sittlichkeit»

Karin Hausen:  Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse

Gerda Neyer:  Die Entwicklung des Mutterschutzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1877 bis 1945

Kerstin Kohtz:  Die Jugendwohlfahrtsgesetzgebung von 1922 und die Behandlung von Mädchen im Fürsorgeerziehungsverfahren in der Weimarer Republik

Elisabeth Meyer-Renschhausen:  Zur Rechtsgeschichte der Prostitution. Die gesellschaftliche «Doppelmoral» vor Gericht

Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert

Dieter Schwab:  Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert

Werner Schubert:  Die Stellung der Frau im Familienrecht und in den familienrechtlichen Reformprojekten der NS-Zeit

Merith Niehuss:  Eheschließung im Nationalsozialismus

Theresia Degener:  Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945


ANHANG
Abkürzungsverzeichnis
Auswahlbibliographie,
Die Autorinnen und Autoren
Sachregister

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Erwerbstätige Mütter

Ein europäischer Vergleich

Herausgegeben von Ute Gerhard, Trudie Knijn, Anja Weckert
C.H.Beck , München 2003
ISBN 3 406 49433 1

Wenn in Deutschland über erwerbstätige Mütter und ihre Probleme gesprochen wird, dann fehlt es oft an Kenntnis, wie die europäischen Nachbarländer diese Probleme gelöst haben. Daher wählt das Buch einen zweistufigen Ansatz, der sowohl einen Vergleich europäischer Wohlfahrtssysteme umfasst als auch die Alltagspraxis von erwerbstätigen Müttern auf der Grundlage länderbezogener Fallstudien untersucht. Der Band wendet sich an all diejenigen, die die Berufstätigkeit von Müttern und die Belange der Kinder als gesellschaftliche und nicht nur individuell zu lösende Aufgabe verstehen.


Aus der Einleitung

Ute Gerhard, Trudle Knijn, Anja Weckwert
Einleitung: Sozialpolitik und soziale Praxis

Europaweit bleiben Frauen immer häufiger berufstätig, wenn sie Kinder haben. Ob dies finanziellen Gründen, ihrem höheren Ausbildungsstand oder veränderten Berufswünschen geschuldet, oder ob dieser Trend mit dem Ausbau des Dienstleistungssektor zusammenhängt, der Frauen mehr Berufsmöglichkeiten eröffnet – das Phänomen der berufstätigen Mutter ist zu einem Bestandteil unseres Alltags geworden. Allerdings variiert die Erwerbsquote von Frauen deutlich zwischen und in den europäischen Ländern. In Dänemark, Schweden und Finnland sind Frauen aller Altersgruppen, in einem weitaus größeren Umfang in den Arbeitsmarkt integriert, als dies in Irland, Italien und Luxemburg oder auch in Deutschland der Fall ist (vgl. Klammer und Daly in diesem Band). Doch auch in der Binnenperspektive geben die einzelnen Länder kein einheitliches Bild ab, da erhebliche Unterschiede vor allem zwischen Frauen mit höherem und niedrigerem Bildungsgrad bestehen (vgl. Rubery, Smith und Fagan 1999).

Die Sozialpolitikforschung tendiert dazu, die länderspezifischen Unterschiede durch die wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen und Leistungen zu erklären, die je nach Art und Ausmaß die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern oder erschweren. Insbesondere der Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten, aber auch großzügige Regelungen zur Elternzeit und die Individualisierung von Steuersystemen gelten als Maßnahmen, um die Erwerbs-tätigkeit von Müttern zu fördern. Umgekehrt werden ein niedriges Unterstützungsniveau und eine hohe Besteuerung des zweiten Familieneinkommens als entmutigende Faktoren betrachtet. Auf den ersten Blick scheinen diese Schlussfolgerungen zutreffend zu sein. Die skandinavischen Länder sind, wenngleich auch hier Unterschiede bestehen, beispielhaft dafür, wie ein gut ausgebautes Versorgungsnetz für Kinder und Eltern mit einer hohen Frauenerwerbstätigkeit einhergeht. Doch eine solche Übereinstimmung von Leistungskatalog und Beschäftigungsquoten ist keineswegs in allen europäischen Ländern zu beobachten. Neuere Forschungsarbeiten verweisen deshalb auf den Stellenwert, der kulturellen Variablen bei der Erklärung von Frauenerwerbsquoten zukommt (vgl. Duncan und Edwards 1999; Pfau-Effinger 2000; Duncan und PfauEffinger 2000). Weder richten Frauen ihre Berufsentscheidungen allein an der Verfügbarkeit  von Kinderbetreuungsplätzen oder anderen sozialpolitischen Leistungen aus, noch geben finanzielle Kalkulationen über Gehaltsvorteile, Betreuungskosten und Steuern den Ausschlag. Vielmehr beeinflussen auch kulturelle Leitbilder und Normen das Erwerbsverhalten. Frauen mit Kindern haben kulturell geprägte Vorstellungen von den Bedürfnissen eines Kindes, von Geschlechterrollen, von Haushaltsführung und Mutterschaft. Sie müssen sich außerdem mit den Erwartungen ihres Partners oder den Wertvorstellungen ihrer Angehörigen und Kollegen auseinandersetzen und in diesem Kontext nach einem Weg suchen, Berufstätigkeit und Mutterschaft in einer für sie zufriedenstellenden Weise miteinander zu verbinden. Allerdings vermag auch der Verweis auf die vorherrschenden kulturellen Leitbilder nicht hinreichend zu erklären, warum es zu einem signifikanten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit kommt bzw. warum in ein und demselben Land erhebliche Unterschiede im Erwerbsverhalten zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen bestehen. Studien zum Wertewandel in Europa zeigen, dass es zwischen Einstellungen und dem Erwerbsverhalten von Frauen keine eindeutige Beziehung gibt (vgl. Sociaal en Cultureel Planbureau 2000).

Anhand neuerer Untersuchungen zu allein erziehenden Müttern in Großbritannien und den Niederlanden lässt sich verdeutlichen, wie schwierig es ist, die Einflussfaktoren zu bestimmen und zueinander in Beziehung zu setzen. In diesen Ländern sollten neue sozialpolitische Regelungen allein erziehende Mütter motivieren, eine Berufstätigkeit aufzunehmen anstatt — wie bisher praktisch toleriert — von Sozialleistungen zu leben. Die entsprechenden Maßnahmen waren allerdings wenig erfolgreich. Sie gingen von der grundsätzlichen Annahme aus, dass es in jeder Familie zumindest einen Ernährer oder eine Ernährerin geben müsse, um Armut und sozialer Isolation zu entgehen. Viele allein erziehende Mütter in Großbritannien und den Niederlanden entschieden sich jedoch dafür, weiterhin den Sozialstaat in Anspruch zu nehmen; sie folgten einer anderen Maxime, nämlich der, dass sich eine Mutter vorrangig um ihre Kinder kümmern müsse. Angesichts der widersprüchlichen Erwartungen, einerseits der neuen Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit und andererseits den nach wie vor gültigen geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen nachzukommen (Duncan und Edwards, 1999; 2001), weigern sich bis heute vor allem sozial- und hilfeabhängige Mütter mit geringerer Bildung, eine Arbeit aufzunehmen. Hingegen versuchen allein erziehende Mütter mit  höherer Bildung, die wenigen öffentlichen Betreuungsplätze zu nutzen, um berufstätig zu sein (Van Drenth, Knijn, Lewis 1999; Knijn und Van Wel 2001 a; Millar und Rowlingson 2001). Diese und andere qualitative Fallstudien zeigen, dass die Entscheidungen von Frauen auf ein ganzes Bündel von Handlungsmotiven und Rahmenbedingungen verweisen, die erst in ihrer Kombination erklären können, warum eine Frau in einem bestimmten Fall erwerbstätig ist oder nicht. Das vorliegende Buch verfolgt die Absicht, dieses Zusammenspiel von Handlungsmotiven und Rahmenbindungen näher zu beleuchten, indem es sowohl die Ebene der Sozialpolitik als auch die Ebene der sozialen Praxis berufstätiger Mütter berücksichtigt.

Wohlfahrtsregime und Geschlechterarrangements
Die Überlegungen zum Verhältnis von Sozialpolitik und sozialer Praxis berühren eine grundsätzliche soziologische Fragestellung, nämlich die nach dem Verhältnis von Struktur und Handeln, die bis heute die Sozialwissenschaften in unterschiedliche Lager teilt. Anders ausgedrückt geht es um die alte Frage, inwieweit die Verhältnisse — Strukturen und Institutionen — das Verhalten der Menschen bestimmen oder welcher Raum für individuelles Handeln, soziale Praktiken und Strategien und für die Gestaltung der eigenen Lebensentwürfe bleibt. So wenig wir eine Antwort auf diese Kontroverse zu geben vermögen, so wenig wollen wir sie in der Sache umgehen, da unser Thema immer wieder Fragen aufwirft, die in einem direkten Zusammenhang mit dieser Diskussion stehen. Um einige dieser Fragen in sozialpolitische Problemstellungen zu übersetzen: Warum ist die Erwerbsquote der Frauen in Ostdeutschland nach wie vor wesentlich höher als die westdeutscher Frauen? Warum ist ihre Erwerbsorientierung auch angesichts hoher Arbeitslosenraten ungebrochen, obwohl sie nun seit mehr als 10 Jahren unter den gleichen rechtlichen wie sozialpolitischen Rahmenbedingungen leben? Warum arbeiten allein erziehende Mütter in der Bundesrepublik häufiger und auch häufiger auf Vollzeitbasis, als es allein erziehende Mütter in England und den Niederlanden tun? Oder warum sind Frauen in einer Reihe von Ländern massenhaft in den Arbeitsmarkt eingetreten zu einem Zeitpunkt, als es noch kein ausgebautes Sozialsystem für berufstätige Mütter gab?  […]

In der Sozialpolitikforschung wurden mit dem Begriff der «Wohlfahrtsregime», der für die international vergleichende Wohlfahrtsforschung leitend wurde, bereits kulturelle Faktoren zur Kennzeichnung der unterschiedlichen Wohlfahrtspolitiken eingeführt. Insbesondere die Arbeiten von Esping-Andersen (1990; 1996) bieten in dieser Hinsicht einen konzeptionellen Rahmen an, in dem verschiedene Regime, Entwicklungspfade bzw. nationale Modelle der Sozialpolitik verglichen werden können. «Regime» meint hier, dass neben der für den jeweiligen Sozial- oder Wohlfahrtsstaat maßgeblichen Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft und damit der Anbindung der Sozialpolitik an die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ein ganzer Komplex von rechtlichen, institutionellen und sozio-kulturellen Faktoren berücksichtigt werden muss und die Typologie bestimmt. Da Esping-Andersen zur Erklärung der unterschiedlichen Wohlfahrtsregime das spezifische Verhältnis von Staat, Markt und Familie ins Zentrum der Analyse stellt, scheint sein Ansatz zunächst offen zu sein für die Geschlechterproblematik. Dennoch hat eine inzwischen umfangreiche feministische Sozialpolitikforschung die Leerstellen auch dieses Ansatzes herausgearbeitet und darauf hingewiesen, dass die Rolle der Familie theoretisch unklar bleibt, lediglich für den Typ des konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaates (dazu rechnet er den deutschen Sozialstaat), nicht jedoch für die anderen beiden Regime, die liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtstypen aufgezeigt wird. Zur Kennzeichnung der verschiedenen Typen führt er den Begriff der «De-Kommodifizierung» ein, der die Beziehung des oder der Einzelnen zum Arbeitsmarkt beschreibt und den Grad wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung an der Möglichkeit bemisst, nicht darauf angewiesen zu sein, seine Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt verkaufen zu müssen. Da Frauen mit Kindern oder Familie oft aus anderen Gründen als Männer nicht erwerbstätig sind, ihre «Unabhängigkeit» vom Arbeitsmarkt in der Regel die Abhängigkeit von einem Familienernährer bedeutet, wird die systematische Bedeutung der Kategorie «Geschlecht» erneut ignoriert. Gleichwohl ist dieser theoretische Rahmen auch für die feministische Analyse anschlussfähig, die nun die grundsätzlich anderen Bedingungen von Frauenarbeit auf dem Markt und in der Familie, somit die besondere Bedeutung der Fürsorgearbeit (im Englischen care zur Bezeichnung der Haushalts-, Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegetätigkeiten) für die Produktion und Reproduktion des Lebens und für das allgemein Wohl herausgearbeitet hat (vgl. Sainsbury 1994; Lewis 1998 a; Daly und Lewis 2000). Damit ist zugleich ein Perspektivenwechsel eingeleitet, der eine Reihe neuer Kriterien für die vergleichende Untersuchung von Wohlfahrtsstaaten und -regimen zu formulieren erlaubt. […]

Die Beiträge des vorliegenden Buches knüpfen an diese Diskussionen an, wobei das besondere Interesse dem Verhältnis von Sozialpolitik, normativen Leitbildern und der sozialen Realität von berufstätigen Müttern gilt. Während sich ein Großteil der Literatur zu Wohlfahrtsstaaten und Frauenerwerbstätigkeit auf eine Analyse der Makroebene stützt, verfolgt dieser Band das Anliegen, neben der vergleichenden Untersuchung von wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen und statistischen Daten auch die Mikroebene des Alltags einzubeziehen. So konzentrieren sich einige Beiträge auf die Strategien und Alltagspraktiken berufstätiger Mütter und nehmen auf der Grundlage qualitativer Fallstudien explizit eine Akteursperspektive ein, um neue Sichtweisen auf die skizzierten Zusammenhänge zu eröffnen und die Ebene sozialen Handelns nicht nur konzeptionell oder als statistische Größe zu berücksichtigen, sondern als eigenständigen Untersuchungsgegenstand einzubeziehen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Art und Weise, in der Mütter Beruf und Kinderbetreuung im Alltag vereinbaren. Dieser Ansatz beinhaltet eine alternative Sicht auf die Wohlfahrtsproduktion, da nicht nur die Leistungen des Sozialstaates, sondern auch die Hilfe von Partnern, Angehörigen und Freunden, private Betreuungsangebote, aber auch verschiedene Formen der Arbeitzeitgestaltung zu den Ressourcen gehören, auf die sich Mütter stützen und die sie koordinieren, um Beruf und Betreuungsarbeit miteinander verbinden zu können. Bisher gibt es kaum ländervergleichende, qualitative Forschungen, die das Verhältnis von Sozialpolitik und Alltagshandeln im Blick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie untersuchen. Die soziologische und sozialpolitische Forschung wie auch die Sozialpolitik tendieren allzu oft dazu, die jeweils vorherrschenden Hintergrundannahmen über Familie, Mutterschaft und Frauenerwerbstätigkeit als gegeben hinzunehmen. Gerade die Selbstverständlichkeit einer Familienverfassung, in der die Verpflichtung der Frauen zu unentgeltlicher Haushalts- und Erziehungsarbeit die materielle und konzeptionelle Voraussetzung des sozialstaatlichen Arrangements bildet (Kaufmann 1997: 44f.), hat dazu beigetragen, diese quasi «natürliche» Grundlage aller Wohlfahrtsproduktion in der sozialpolitischen Debatte auszublenden. Insbesondere dort, wo – wie in der Bundesrepublik Deutschland — die Leistungen der privaten Haushalte und der Fürsorge- und Betreuungsarbeit in den Familien einem eigenen Politikbereich zugeordnet und als Familienpolitik institutionalisiert sind, kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch als reines Frauen- und Familienproblem behandelt werden. Die Beiträge dieses Bandes, die auch Wertvorstellungen und Alltagspraktiken berufstätiger Mütter in unterschiedlichen Ländern untersuchen, ermöglichen demgegenüber eine kritische Überprüfung der je eigenen Hintergrundannahmen. Eine solche Perspektive korrigiert manche voreilige Behauptung über das, was Mütter wollen und Eltern tun. Der Blick über die Grenzen ist somit aus mehreren Gründen heilsam und angesichts gegenwärtiger Veränderungen unerlässlich geworden: Nicht nur, weil sich die Intentionen und Bedürfnisse von Frauen überall in Europa rapide verändern, sondern auch wegen der Anforderungen des europäischen Integrationsprozesses, in dem überstaatliche Politikformulierungen von Seiten der Europäischen Union an Bedeutung gewinnen und verbindliche Vorgaben zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer entwickelt werden. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist Bestandteil oder Gegenstand verschiedener Verträge, Richtlinien, Empfehlungen und Programme der EU. Da die Gleichstellungs-politik der EU einen gemeinsamen Hintergrund auch für die in diesem Buch berücksichtigten Länderkontexte bildet, seien die wesentlichen Entwicklungslinien kurz skizziert. […]


Inhalt

Ute Gerhard, Trudie Knijn, Anja Weckert
Einleitung: Sozialpolitik und soziale PraxisWohlfahrtsregime und Geschlechterarrangements
Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern im rechtlichen Rahmen der EU
Kontext und Themen des Buches

Jane Lewis
Erwerbstätigkeit versus BetreuungsarbeitEinleitung
Normative Vorgaben und das Ernährermodell
Verhaltensänderungen und die Erosion des Ernährermodells
Die Implikationen der neuen politischen Hintergrundannahmen
Die Pflicht zur Erwerbs- und Betreuungsarbeit,  
Betreuungs- und Sozialpolitik

Ute Gerhard
Mütter zwischen Individualisierung und Institution:
Kulturelle Leitbilder in der Wohlfahrtspolitik Einleitung
Die Individualisierungsthese in der Geschlechterperspektive
Die andere Seite der Individualisierung: Veränderte Familienformen und der Bedeutungsverlust der Ehe
Mutterschaft als soziale Konstruktion
Resümee

Marie-Thérèse Letablier und Ingrid Jönsson
Kinderbetreuung und politische Handlungslogik, S. 85Einleitung
Kinderbetreuungsregime
Politische Rechtfertigungsgründe:
Zur Handlungslogik staatlicher Intervention
Restrukturierung der Kinderbetreuungspolitik und Familienförderung: neue Prinzipien, neue Formen der Regulierung

Constanza Tobio und Rossana Trifiletti
Strategien, Alltagspraxis und sozialer WandelEinleitung
Strategie-Konzepte
Strategien von Frauen und sozialer Wandel
Typen von Strategien
Fazit

Arnlaug Leira, Constanza Tobio, Rossana Trifiletti
Verwandtschaftsnetze und informelle Unterstützung: Betreuungsressourcen für die erste Generation erwerbstätiger Mütter in Norwegen, Italien und SpanienEinleitung
Die norwegische Geschichte: Wie erwerbstätige Mutter die doppelte Verantwortung meisterten
Verwandtschaftliche Hilfe: Eine notwendige Ressource für berufstätige Mütter in Italien,
Verwandtschaftliche Hilfe: Eine notwendige Ressource für die heutige Generation erwerbstätiger Mütter in Spanien
Die Konstruktion berufstätiger Mütter in Norwegen, Italien und Spanien
Schlussfolgerung

Trude Knijn, Ingrid Jönsson, Ute Klammer
Betreuungspakete schnüren: Zur Alltagsorganisation berufstätiger MütterEinleitung
Forderungen nach alternativen Betreuungsmöglichkeiten
Kinderbetreuung und Betreuungspakete: Muster und Konventionen in Schweden, Deutschland und den Niederlanden
Betreuungspakete im Vergleich
Forderungen und Rechte

Ute Klammer und Mary Daly
Die Beteiligung von Frauen an europäischen Arbeitsmärkten Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen in der Europäischen Union
Die Auswirkungen von Nachfrage- und Angebotsfaktoren
Gegenwärtige Trends
Fazit
Tabellen

Anmerkungen
Literaturhinweise
Die Autorinnen

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Auf Kosten der Frauen

Frauenrechte im Sozialstaat

Herausgegeben von Ute Gerhard, Alice Schwarzer u. Vera Slupik
Weinheim: Beltz 1988
ISBN 3 407 55730 2

Diese Studie aus dem Jahr 1988, eine Kooperation von Expertinnen traditioneller Frauenpolitik und von Forscherinnen aus der neuen Frauenbewegung, ist die erste umfassende Analyse der gesetzlich verankerten Benachteiligung der Frauen im sozialen Sicherungssystem der Bundesrepublik. Analysiert wird die Benachteiligung der Frauen in Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik (Ehegattensplitting), in der gesetzlichen Krankenversicherung, im Kindergeldrecht, beim Erziehungsgeld und in der Sozialhilfe. In der Zusammenschau dieser verschiedenen Politikfelder zeigt sich: Die Benachteiligung der Frauen hat System und ist eine Folge des Patriarchats, die den bisherigen Sozialstaatskompromiss in Frage stellt und neue Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit fordert.

➜ Inhalt des Buches
















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