
Care – ein revolutionäres Projekt.
Die feministische Soziologin Ute Gerhard plädiert überzeugend „für eine andere Gerechtigkeit“.
in: Löchel, Literaturkritik.de 2019, Nr. 3 ➜ Auf Literaturkritik.de lesen
Unter Feminismus wird vielerlei verstanden, hat Margarete Stokowski in ihrem Buch Die letzten Tage des Patriarchats zu Recht konstatiert und auch gleich ihre eigene Definition vorgetragen. Ute Gerhard, auch sie Feministin und zudem eine renommierte Soziologin, legt in ihrem neuen Buch Für eine andere Gerechtigkeit eine andere und weit nachvollziehbarere Definition vor. Feminismus, sagt sie, „bezeichnet die Zusammenfassung aller Bestrebungen von Frauen um Anerkennung, Selbstbestimmung, politische Partizipation und soziale Gerechtigkeit“. Sein Ziel sei ein Zweifaches: Es gehe gleichermaßen um „die Befreiung bzw. Entscheidungsfreiheit jeder einzelnen Frau“ wie auch um „eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft und der in ihr verankerten Geschlechterordnung“.
Wie Titel und Untertitel verraten, zeigt Gerhards Buch Dimensionen feministischer Rechtskritik auf und plädiert Für eine andere Gerechtigkeit. So trocken, wie das klingt, ist das Buch allerdings keineswegs geschrieben – im Gegenteil, es ist gut lesbar, auch wenn die Autorin nicht darauf verzichtet, auf PhilosophInnen zu rekurrieren, die nicht eben dafür bekannt sind, eine leichte Lektüre zu bieten. Immanuel Kant zum Beispiel, mit dem sie die erste der insgesamt drei Dimensionen des Rechts bestimmt: das „seinem Inhalt oder seiner Anwendung nach“ gegebenenfalls „höchst ungerechte“ positive Recht; also das, „was die Gesetze an einem gewissen Ort zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben“. Als zweite Dimension tritt die „praktische Rechtsanwendung“ hinzu, mithin die empirischen „Rechtstatsachen“. Die dritte Dimension bilden die über diese hinausgehenden kritischen „Vorstellung von einem anderen, gerechteren oder ‚richtigen‛ Recht“. In ihnen spiegelt sich ein „utopisches Verlangen nach Gerechtigkeit“, das ein „Grundbedürfnis der menschlichen Existenz“ sei. Recht und Rechte, so Gerhard weiter, werden nicht ein für allemal gewährt oder errungen, sondern müssen stets aufs Neue verhandelt, verteidigt und erworben werden. Recht könne also sowohl „Befreiungs- wie Herrschaftsinstrument“ sein. Entscheinend dabei sei, dass die bereits „gewährleisteten Rechte“ überhaupt in Anspruch genommen werden.
Damit ist der argumentative Boden für Gerhards „Forderungen nach Verwirklichung des Rechts auf Freiheit und Gleichheit“ bereitet, wobei die von ihr gemeinte Gleichheit „unter Berücksichtigung sozialer Ungleichheit und Differenzen auf materiale Gerechtigkeit zielt“. Spätestens hier wird ihr feministischer Ansatz relevant. Denn als Ausdruck von Machtverhältnissen „verkörpern“ die ersten beiden Dimensionen des Rechts theoretisch wie praktisch „männliche Denkweisen, Maßstäbe und Interessen“. Besonders deutlich tritt das im Privatrecht hervor, zu dem etwa das Personenrecht und das Familienrecht zählen. Im Strafrecht wird das maskulinistische Wesen des Rechts etwa im Abtreibungsrecht der Paragrafen 218 und 219a offenkundig. Waren bislang alle Kämpfe für eine Abschaffung des frauenfeindlichen Abtreibungsrechts vergeblich, so wurde nach harten Auseinandersetzungen im Bereich des Privatrechts immerhin „ein Flickenteppich von Frauenrechten“ errungen. Doch „bei aller Buntheit“ lässt er nach wie vor „die Formen patriarchaler Herrschaftssicherung noch in der Systematik des geltenden Rechts erkennen“.
Ungeachtet aller ihrer unterschiedlichen Positionen teilt die „notwendig interdisziplinär“ arbeitende Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft ein „nicht nur formales, sondern ‚materiales‛ und zugleich problemorientiertes Verständnis von Gleichberechtigung“, in dessen Zentrum die „Realisierung des Gleichheitskonzeptes in der Lebensrealität von Frauen und Männern“ steht. Es geht also keineswegs um eine Gleichstellung der Geschlechter in einer an männlichen Vorstellungen und Lebenswirklichkeiten orientierten Gesetzgebung, sondern vielmehr darum, die „ungleichen Ausgangsbedingungen“ von Männern und Frauen bei der Verwirklichung des „Gleichheitskonzeptes“ zu bedenken.
Gegen diversitätstheoretische Ansätze, die angesichts unterschiedlicher weiblicher Lebenswirklichkeiten und -perspektiven die Berechtigung der Rede von „den Frauen“ infrage stellen, erklärt Gerhard, dass „die soziale Gruppe der Frauen“ von jeher und stets aufs Neue „durch typische und spezifische Unrechtserfahrungen verbunden“ sei. Dabei wussten FeministInnen spätestens seit Beginn der Neuen Frauenbewegung, dass Frauen „unterschiedliche gesellschaftliche Positionen einnehmen und erst auf gemeinsame Interessen eingestimmt, für kollektives Handeln umworben werden müssen“.
Die Allgegenwart von Gewalt im Leben von Frauen, sei es häusliche Gewalt oder Vergewaltigung im Krieg, die als Dominanzstruktur in alle Lebensbereiche hineinwirkt, bildet eine gemeinsame Erfahrung und somit eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Nord und Süd, Ost und West, die zum Vehikel der Solidarisierung und Mobilisierung wurde.
Mehr noch, es erweise sich als „ein theoretisches Problem“, wenn „die Ungleichheit und Differenz zwischen den Geschlechtern durch die Differenzen unter den Frauen ersetzt, ja gegeneinander ausgespielt werden“.
Gerhard weist auf die besondere Bedeutung des Kampfes um Geschlechtergerechtigkeit für alle Kämpfe um Gerechtigkeit hin. Denn, wie sie darlegt, stehen der „Ausschluss und Einschluss“ der Frauen, die von ihnen „erkämpften Zugeständnisse und die noch nicht für alle möglichen Schritte zu Selbstbestimmung und Emanzipation paradigmatisch für andere Figurationen der Ungleichheit“. So können die „Kategorie Geschlecht“ und die von FeministInnen erstrittenen „Innovationen im Gleichberechtigungsrecht“ als „Paradigma und Türöffner für die Wahrnehmung zusätzlicher Diskriminierungsgründe“ fungieren.
Den Legenden jüngerer Queer- und GenderfeministInnen, erst sie hätten ein intersektionales Bewusstsein entwickelt, hält sie zu Recht entgegen, dass „die Analyse von Klasse und Geschlecht“ schon seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik „der Drehpunkt“ feministischer Diskussionen und Praxen war, ebenso wie die Trias „women, race and class in den USA“.
Gerhard hat ihr Buch in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten zeichnet sie die deutschen Kämpfe um Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit seit der historischen Rede von Helke Sander 1968 auf dem 23. Delegiertenkongress des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) nach und bindet sie an die jeweiligen theoretischen Vorstellungen und Konzepte zurück. Ein besonderes Augenmerk richtet die Autorin dabei auf den „Einigungsprozess“ Deutschlands nach 1989, den sie als „beispiellose Inszenierung männlicher, patriarchalischer und ökonomischer Interessenpolitik“ analysiert. Eindrücklich erinnert sie daran, wie die ostdeutschen Frauen im Laufe dieses Prozesses „in mehrfacher Hinsicht marginalisiert und diskriminiert“ wurden, und zwar nicht nur von staatlicher Seite, sondern ebenso sehr „auf der Ebene gewerkschaftlicher Interessenpolitik“ wie auch „bei der Abwicklung und Neuformierung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft“. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere Gerhards Zusammenfassung der Verfassungsdebatte nach der Wiedervereinigung.
Auch moniert sie zu Recht, dass die selbstgenügsame „feministische Sprachkritik“ der vergangenen Jahre, die sich im Elfenbeinturm universitärer Queerstudies um sich selbst dreht, weitgehend anstelle politischer Praxis und gesellschaftlicher Vermittlung getreten ist, und klagt eine Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen und Feminismus ein, die „nicht nur akademisch, als Spielart eines vom Handlungsdruck befreiten Geschlechterwissen geführt wird“, sondern „immer auch zugleich engagierte Kritik an den Verhältnissen“ sein müsse.
Nimmt dieser erste Teil internationale Diskurse eher am Rande in den Blick, so weitet der zweite die Perspektive grundsätzlich. Er geht weiter in die Vergangenheit zurück und stellt nicht mehr die deutschen Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt, sondern die Kämpfe um Frauenrechte in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Dabei arbeitet Gerhard insbesondere heraus, wie bedeutend das Privatrecht für die Zementierung der Rechtsungleichheit von Frauen war. In einem Unterabschnitt wendet sie sich zudem dem Kampf ums Frauenstimmrecht zu. Die Autorin umreißt außerdem die „wichtigsten Streitpunkte und Strategien“, die die Geschichte der Feminismen im 20. Jahrhundert geprägt haben. Instruktiv ist in diesem Abschnitt nicht zuletzt ihre Auseinandersetzung mit dem altbekannten, allerdings tatsächlich bloß scheinbaren Paradoxon, dass FeministInnen „auf dem Recht auf Gleichheit und gleichzeitig auf der Berücksichtigung und Anerkennung der Differenz bestehen“. Das Paradoxon ist nur ein vermeintliches, weil die Forderung nach Gleichheit und Anerkennung der Verschiedenheit keineswegs in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Vielmehr „setzt Gleichheit die Verschiedenheit der Menschen ja voraus“ – andernfalls wäre das Rechtsmittel überflüssig. Auch kann es sich beim Rechtsbegriff der Gleichheit „nur um die Gleichheit in bestimmten, für die Lebenschancen relevanten Hinsichten handeln, niemals aber um Identität oder Angleichung“. Ähnlich verhalte es sich mit dem angeblichen Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit, die tatsächlich „auf einander verweisen“ und sich „ergänzen“. Denn weder genügt „Freiheit ohne Gleichheit, noch weniger Gleichheit ohne Freiheit demokratischen Ansprüchen“.
Im dritten und wichtigsten Abschnitt nimmt Gerhard schließlich „soziologische Analysen zu den Kernthemen geschlechterspezifischer Benachteiligung und Unterordnung im Bereich Arbeit, Familie oder privaten Lebensformen und besonders zu Care als Ensemble fürsorglicher Praxen“ vor. Dabei macht sie sich für das von der Marxistin Frigga Haug als „Care-Syndrom“ bespöttelte Care-Konzept stark. In diesem Schlüsselbegriff kommt der Autorin zufolge „ein genuin feministisches Anliegen“ zum Ausdruck, das einen „Kern feministischer Gesellschaftskritik erkennbar“ mache. Denn es ziele auf eine „grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, deren Zentrum die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung ist“. Als „sozialpolitisches Konzept der ‚Sorge für andere‛“ gebe es „normative Leitlinien“ vor, die es nicht nur in privaten, sondern auch und gerade in politischen Beziehungen umzusetzen gelte. Care-Konzepte seien „gesellschaftskritische Entwürfe und feministische Visionen zugleich“. Als solche stehen sie dafür, „wie Liebe und Recht als ‚Fürsorglichkeit‛ und in Verantwortung füreinander gleichberechtigt gelebt werden können“. Werde diese Konzeption zu Ende gedacht, führe das zu dem Schluss, „dass eine nicht nur geschlechtergerechte, sondern grundsätzlich alle Dimensionen der Ungleichheit berücksichtigende Politik der Lebenssorge die Neuverteilung der Arbeiten und Sorgetätigkeiten zwischen Männern und Frauen sowie die Umstrukturierung der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme, nicht zuletzt die Umwertung der dominierenden Werthaltungen und politischen Prioritäten beinhalten müsste“. Das sei „ein in der Tat revolutionäres Projekt“.